Geschichtliche Ereignisse hinterlassen ihre Spuren. Zur Zeit der Reformation war in Folge der traurigen seelsorglichen Verhältnisse einestheils und anderstheils durch die Habgier des Potentes in terra ein großer Theil katholischer Pfarrgemeinden Niederösterreichs lutherisch geworden. Zu diesen Gemeinden gehörte auch Bierbaum am Kleebühel. Dasselbe lag einst näher der Donau; jetzt beträgt der Weg dahin schier eine Stunde. Laut des in der alten Hofkammerprocuratur befindlichen Visitationsbuches der österreichischen Pfarreien de anno 1543 und 1544 sub fol 276 und 280 hatte Bierbaum schon um das Jahr 1300 einen eigenen Pfarrer. Die ungünstige Lage aller Orte an dieser Strecke der Donau trug viel dazu bei, daß sie in wirthschaftlicher (man denke nur an die einstigen Städte, Trübensse, Winkel, Waasen) sowie in religiöser Hinsicht zurückgingen. Nachdem überdies im Jahre 1537 Georg Puchhaimbs Hausfrau die Pfarre „spoliirt“, auf ehrlich deutsch gesagt beraubt hatte, ward statt des Pfarrers von obgenannter Frau ein Prädicant hier angestellt. Er und seine Nachfolger hatten nun Zeit, das reine Evangelium auszubreiten. Erinnerungen und Ueberbleibsel an dieses lutherische Interregnum haben sich bis auf den heutigen Tag noch hier erhalten. Dies war umso leichter möglich, als Bierbaum nach der Gegenreformation nur eine von den 21 Filialen der Pfarre Kirchberg am Wagram war und einer geordneten Seelsorge entbehren mußte. Erst nachdem zwischen 1770 bis 1779 49 Erwachsene ohne Versehen und 19 Kinder ohne heil. Taufe gestorben waren, erhielt Bierbaum einen Capellanum expositum. Zu obgenannten Ueberbleibseln aus jener lutherischen Zeit gehört auch der Brauch, daß die Ortsburschen am Feste Allerheiligen aus Stroh gewaltige Zöpfe flechten und diese Nachts auf die Dächer mißliebiger Leute werfen. Bekanntlich ist es katholische Sitte, am Allerseelentage die Armen zu beschenken, für die leidenden Seelen ein gutes Werk zu verrichten. Der Landmann gab nicht Geld – er gab das, was er hatte, Brot; das war das Allerseelenbrot, heute irrig „Allerheiligenstritzel“ genannt. Den Protestanten war dieser Brauch ein Teufelswerk. Man wendete die schärfste Waffe dagegen an – denn der Glaube an ein Fegefeuer ist ein zu begründeter – man spottete dagegen. (Siehe Luther’s Strohepistel“.) Seitdem findet man den Gebrauch einer Betheilung der Armen mit Almosen am Allerseelentage in der dortigen Gegend nicht, ja nicht einmal bei Leichenbegängnissen ist eine Opfergabe für die Verstorbenen im Gebrauche.
In Bierbaum selbst hat derzeit diese Verspottung guter Werke sofort aufgehört, nachdem die Leute über die Bedeutung dieser Strohzöpfe Aufklärung erhielten. In den anderen Orten stromaufwärts, soweit diese einst lutherisch waren, besteht er noch fort.
Auch in verschiedenen Redensarten spukt noch lutherischer Geist, z.B. „Die Kirche braucht Nichts, sie hat keine Kinder“. Die Prädicanten brauchten bekanntlich viel mehr. Dieser Geist zeigt sich ferner darin, daß die Pfarrangehörigen zu Allem zu haben sind, nur dafür nicht, daß sie für die eigene Pfarrkirche etwas leisten. Gerade wie in lutherischen Gegenden betritt man hier erst die Kirche, wenn der Pfarrer den Gottesdienst beginnt und sobald Amen gesagt wird, ist die Kirche schon leer, in urkatholischen Gemeinden gehen die Gläubigen schon vor Beginn des Gottesdienstes in die Kirche und eine große Anzahl derselben bleibt nach dem Gottesdienst noch ein Weilchen im Gebete zurück – die Kirche ist eben ihr Gotteshaus und nicht bloßes Versammlungshaus. Daß Protestanten in der Bierbaumer Kirche einst das Regiment geführt haben, ergibt sich auch aus den umgekehrten Grabsteinen und Grabdenkmälern. Das zu katholische Bild kam einfach nach unten und ein Pflastersein war erspart. Wie anderwärts zur Reformationszeit ward der Haupteingang zur Kirche auch hier seitwärts angebracht – nun ja, die neuen Hirten waren auch nicht durch das Thor, sondern durch das Seiten- und Hinterthürlein in den Schafstall eingedrungen.
Doch genug der alten Erinnerungen! Freuen wir uns vielmehr daß wenigstens in der neuesten Zeit in diesem einst ganz lutherischen Gebiete bisher der Ruf: „Los von Rom“ keinen Anklang gefunden, ja, daß er spurlos verhallt ist – gewiß nicht ohne die mächtige Fürsprache jenes Seligen, welcher die dortige Bevölkerung aus dem Irrthume zurückgeführt hat zur katholischen Einheit und Wahrheit, nicht ohne die mächtige Fürsprache des seligen Petrus Canisius.
W.S.
Quelle: Reichspost am 15.11.1902, Seite 9/10
Veröffentlicht in ANNO, AustriaN Newspapers Online
Aufmerksam gemacht auf den Artikel hat Anton Schwanzer, Utzenlaa
Jänner 2019
Maria Knapp