Was sind das doch für sonderbare Menschenwerke, diese künstlichen Höhlen, so nahe unserer Wahrnehmung und doch so fern unserer Erkenntnis, so wenig beachtet und doch so wert, Denken und Schaffen einer längst vergangenen Zeit aus ihnen zu erschließen! Diese in wunderlichen Windungen und überraschendem Zickzack tief in die Erde eindringenden Gänge, die mehr einer Röhre gleichen, durch die man sich, oft nur wie ein Wurm, durchzuzwängen vermag … Dieser Auszug aus dem Vorwort von Matthäus Much zu Pater Lambert Karners Prachtband „Künstliche Höhlen aus alter Zeit“, erschienen in Wien im Jahr 1903, sagt uns schon viel über die mystische Welt der Erdställe.
Erdställe bilden immer ein ganzes System von engen, durchschnittlich 0,7 m hohen engen Gängen, bis zu 1,5 m hohen und bis zu 7 m großen Kammern, von ganz engen Luftröhren zur Erdoberfläche für den Luftaustausch.
Im Deckenbereich sind sie meist bogenförmig gerundet, manchmal laufen sie spitzförmig zusammen. Sie sind in Mergel, Löss, Lehm, Sandstein oder verwitterten Grant gegraben und besitzen meist nur einen Eingang. Weitere Eingänge sind oft erst später geöffnet worden oder bei Bauarbeiten entstanden.
In Erdställen kann man sich meist nur kriechend oder robbend fortbewegen, vor allem in den ganz engen Durchschlupfen, und selbst in den Kammern als Erwachsener maximal sitzen. Sie können linienförmig, oft mit zwei oder mehreren Ein- bzw. Ausgängen an den Endpunkten, kellerartig oder kreisförmig angelegt sein. Erdställe haben ihre Eingänge in Kellern, unter mittelalterlichen Hausbergen bzw. sehr alten Häusern, unter Burgen, Schlössern, Kirchen und auch im freien Gelände. Oft sind sie bei Kellerbauten angeschnitten worden und ihre heutigen Eingänge sind nicht mehr die ursprünglichen. Sie zeigen vielfach auch sehr unterschiedliches Niveau (Stockwerkaufbau) im ganzen System und sind von ganz verschiedener Ausfertigung: von geglätteten (niemals gemauerten) Kammern mit Nischen und natürlichen Sitzbänken, die an Sakralbauten erinnern, bis zu ganz roh bearbeiteten Gängen.
Manchmal konnten auch Hilfsschächte ausgemacht werden, die sehr zweckmäßig waren: Mehrere Arbeiter konnten gleichzeitig eingesetzt werden, wodurch sich die Bauzeit erheblich verkürzte; kürzerer und bequemerer Materialabtransport; bessere Belüftung während des Baues.
Allen Anlagen gemeinsam ist ein größerer Raum am Ende, in dem sich etwa drei Personen beengt aufhalten können. Oft befindet sich dort eine schmale Sitznische, die aber auch eine kleine Altarnische sein könnte. Entlang der Wände sind oft kleine Auslassungen als Lichtnischen vorhanden, die vor allem beim Ausgraben nützlich waren.
Verbreitung
Erdställe findet man rund um den Globus. In Niederösterreich zählt der Bezirk Tulln zu den wichtigsten Verbreitungsgebieten, wobei die meisten im Lössgebiet des Wagramlandes liegen. Das innere Gefüge des Lösses eignet sich bestens für den Bau von Hohlräumen und (Wein)kellern. Bei Großweikersdorf liegt einer der längsten Erdställe (über 50 m) Niederösterreichs Weitere Erdställe des Wagramlandes befinden sich in/ bei Großweikersdorf, Ruppersthal, Hippersdorf, Neudegg, Großriedenthal, Fels am Wagram, Gösing, Feuersbrunn und Engelmannsbrunn. Heute sind nur mehr wenige zugänglich. Durch Bautätigkeit oder aus Furcht vor den geheimnisvollen Löchern wurden zahlreiche Erdställe leider zugeschüttet.
Datierung
Eine Datierung für die Grabung der Gänge ist schwer, die Fachleute nehmen aber an, dass sie im Mittelalter entstanden sind.
Scherbenfunde sind nur bedingt als Quelle für eine Datierung der Anlagen verwendbar, da die Erdställe zu allen Zeiten aus den verschiedensten Gründen aufgesucht und verwendet wurden. Insoferne sind Funde kein tauglicher Anhaltspunkt.
Verwendungszweck
Es konnte noch nicht schlüssig ergründet werden, wozu diese engen Gangsysteme ursprünglich gegraben worden sind. Die mühevolle und zeitraubende Herstellung lässt jedenfalls die einstmalige hohe Wichtigkeit der Erdställe erkennen.
Zufluchtstätte
In Kriegszeiten, bei im Mittelalter häufigen Überfällen und Plünderungen bot der Erdstall Zuflucht und Versteckmöglichkeit für die Menschen und ihre wenigen Habseligkeiten.
Als typisches Beispiel für eine Fluchtanlage mag der Erdstall unter dem Hausberg von Großriedenthal bezeichnet werden. Vom „Festen Haus“ (Burg) aus führte ein unterirdischer Gang zuerst durch mehrere Kammern, dann unter dem Halsgraben durch zum Ausgang am Burgabhang. Es konnten somit die Burgbewohner im Verborgenen und ungesehen die Festung verlassen. Erdställe wurden schon des Öfteren in mittelalterlichen Wehranlagen nachgewiesen.
Gegenargument: Wenn man sich in die Höhle begeben hatte, war man gefangen, da es meist keinen zweiten Ausgang gab. Kranke, alte und beleibtere Menschen konnten nicht in die Gänge gelangen.
Totenkultstätte
Im Mittelalter herrschte rege Siedlungstätigkeit. Die Menschen waren damals durch verschiedene Ereignisse gezwungen, sich neues Siedlungsland zu suchen. Dabei mussten sie die Gräber ihrer Verstorbenen zurücklassen. Doch sie fürchteten den Zorn der Ahnen und bauten daher am neuen Siedlungsort unterirdische Behausungen für die Seelen der Toten, sogenannte Leergräber. Man konnte in die Nischen hinabsteigen und mit den Toten Zwiesprache halten.
Gegenargument: Es sind in den Höhlen so gut wie keine Kultgegenstände zu finden, keine Einstiegsmöglichkeit für alte, kranke und beleibtere Menschen. Die Gänge waren niemals Begräbnisstätten
Lagerräume
Die Erdställe konnten nur bedingt als Lagerräumedienen, da der Platz sehr beengt war und durch die hohe Luftfeuchtigkeit die Lebensmittel bald verdorben wären.
Kultstätte
Im Mittelalter wurde die Christianisierung Europas intensiv durchgeführt. Viele Menschen wollten aber ihre alten Götter oder den Glauben an die Erdmutter nicht aufgeben. Vor allem in entlegenen Gebieten lebten sie ihren Glauben in unterirdischen Gängen weiter. Man findet Einstiege in die Erdställe oft unter seit uralten Zeiten bestehenden Bauerngehörften.
In einer der wenigen schriftlichen Quellen fordert der Passauer Bischof im 16. Jahrhundert in einem Brief alle Priester seines Bistums auf, dass die verfluchten Erdkulte endlich ausgerottet werden müssten.
Gegenargument: Es sind in den Höhlen so gut wie keine Kultgegenstände zu finden, keine Einstiegsmöglichkeit für alte, kranke und beleibtere Menschen.
Kultstätte für die keltische Mythologie
In der keltische Mythologie erscheinen in der Nacht auf den 1. November (Samhain-Nacht) die Verstorbenen im Diesseits. Dieser Glaube ist nie ganz untergegangen und findet ihren Wiederhall im christlichen Totengedenken zu Allerheiligen und Allerseelen. Die Erdställe im europäischen Raum befinden sich großteils in Gebieten mit keltischem und nicht mit germanischem Erbe.
Kleine Leute
Gerade in Ostbayern kursieren viele Sagen über kleine Leute, Zwerge, Wichtel oder Schratzeln, es gibt hier aber auch auffallend viele Erdställe. In vielen Fällen erscheinen die kleinen Leute in der Nacht und erledigen Arbeiten der Menschen, die am Tag liegengeblieben sind. Wenn man ihnen aber etwas Gutes tut, ihnen Essen oder Kleidung schenkt, verschwinden sie und kommen nicht wieder. Diese Wesen werden von manchen als Verstorbene aus der Anderswelt gedeutet, die den Menschen helfen wollen.
Verbindungsgänge
Eines waren Erdställe nicht: Verbindungsgänge zwischen verschiedenen Häusern oder Ortsteilen.
Josef Weichenberger, Erstallforscher
Maria Knapp