Maria Knapp, Winkl m.knapp@hf-kirchberg.at
Die Naturalverpflegsstation                               Die Naturalverpflegsstation war im Rathaus untergebracht.
Foto: Dr. Rudolf Delapina, um 1930
Auf Betreiben des Abgeordneten Josef Schöffel (* 1832 in Brünn, † 1910 in Mödling) wurde im NÖ Landesausschuss im Jahr 1886 ein Gesetz zur Errichtung von Naturalverpflegsstationen für wandernde Handwerksburschen beschlossen. Ziel war es, das Vagabundieren und die Wanderbettelei einzudämmen. Sie waren auch die Vorgänger der Arbeitsämter (was sich allerdings nicht bewährte). Nach diesem Vorbild wurden auch Stationen in anderen Bundesländern sowie in Bayern errichtet. Insgesamt gab es in Niederösterreich 142 solche Häuser. Dokumente zu diesen Stationen sind aber wenige vorhanden. 

Landesgesetz vom 30. März 1886
(auszugsweise)

§ 1.
Zur Hintanhaltung des Haus- und Straßenbettels, sowie zur Verminderung des Landstreichens werden, vorläufig mit Ausnahme des Gemeindegebietes der k.k. Reichshauptstadt Wien, sowie der zum Wiener k.k. Polizeirayon gehörigen Gemeinden, in Niederösterreich Naturalverpflegsstationen errichtet.

§ 2.
Die Naturalverpflegsstationen haben in der Regel mit den bereits bestehenden oder noch weiters zu errichtenden Schubstationen zusammenzufallen.

§ 3.
…Die interne Organisation, die Überwachung des regelmäßigen Dienstbetriebes, sowie die Controlle der Rechnungen derselben, endlich die Prüfung und Genehmigung der den Concurrenzbezirksgemeinden von Naturalverpflegsstationen aufzurechnenden Auslagen steht dem Landesausschusse zu.

§ 4.
In die Naturalverpflegsstationen werden arbeits-, subsistenz- und mittellose, jedoch arbeitsfähige Reisende, ohne Unterschied der Zuständigkeit und der Confession aufgenommen.
 
§ 5.
Vor der Aufnahme in die Naturalverpflegsstation hat der Reisende seine Reiseurkunde an den Leiter der Naturalverpflegsstation abzugeben, welche derselbe bis zu dessen Abgange aufzubehalten und sohin, mit der entsprechenden Vidirung versehen, wieder auszuhändigen hat.
 
§ 6.
Personen, welche in einer Naturalverpflegsstation Aufnahme finden, sind ebenso wie arbeitsfähige, in einer nö. Schubstation zur Constatirung ihrer Zuständigkeit oder ihrer sonstigen persönlichen Verhältnisse oder zum Zwecke ihrer Abschiebungsveranlassung angehaltene Individuen zur Leistung angemessener Arbeit verpflichtet.
 
§7.
Jede Naturalverpflegsstation hat für die in dieselbe aufgenommenen Personen einen geeigneten Arbeitsraum unentgeltlich beizustellen, wofür derselben der Wert der geleisteten Arbeiten überlassen wird.
 
§ 8.
Zur Bestreitung der Auslagen für die Verköstigung und Beherbergung der in eine Naturalverpflegsstation aufgenommenen Personen, sowie die Kosten der ersten Einrichtung, weiters der Instandhaltung, endlich der Beheizung und Beleuchtung der Unterkunftslocalitäten dieser Stationen werden Concurrenzbezirke gebildet.
 
§ 11.
In jeder Gemeinde ist das Verbot des Bettelns in auffälliger Weise durch bleibenden Anschlag kundzumachen und zugleich die Bekanntgabe beizufügen, das mittellose Reisende in der nächsten, namentlich zu bezeichnenden Naturalverpflegsstation Aufnahme finden. 
 
Grundzüge für die Organisation der Naturalverpflegsstationen  in Niederösterreich
 
§ 1.
Den in eine Naturalverpflegsstation aufgenommenen Personen wird gegen eine bestimmte, jedoch im voraus zu leistende Arbeit entweder Mittagmahl oder Abendmahl oder Nachtlager und Frühstück verabreicht….wurde die Zeit der Ankunft in der Übernachtungsstation im Sommer und Winter für 6 Uhr abends bestimmt.
 
§ 2.
Die Entfernung der einzelnen Naturalverpflegsstationen von einander soll in der Regel nicht über 15 Kilometer betragen.
 
§ 3.
Das Ausmaß der einzelnen Mahlzeiten in den Naturalverpflegsstationen wird festgesetzt wie folgt:
  1. Für das Mittag- und Abendmahl je 1 Liter nahrhaftes Gemüse und 25 Dekagramm Roggenbrod, und
  2. für das Frühstück ½ Liter nahrhaftes Gemüse und 25 Dekagramm Roggenbrot.
§ 4.
Für die Nachtruhe wird den Reisenden die Benützung einer reinlichen Schlafstelle mit einem Strohsacke, einem Strohkopfpolster und einer wollenen Decke gewährt.
 
§ 5.
Die für jedes Geschlecht separat herzustellenden Schlafräume sind zur Nachtzeit entsprechend zu beleuchten und im Winter auch zu beheizen.
Die Arbeits- und Schlafräume der Reisenden sind von jenen, in welchen zum Zwecke der Abschiebung bestimmte Personen oder Durchschüblinge angehalten werden (Schubarreste), zu trennen.
 
§ 6.
Der Aufenthalt in der Naturalverpflegsstation darf die Dauer von 18 Stunden nicht überschreiten.
 
§ 7.
Das Verabreichen geistiger Getränke alle Art an die Reisenden oder an Schüblinge in den Naturalverpflegsstationen ist unbedingt verboten.
 
§ 8.
Nachdem die Aufnahme in die Naturalverpflegsstation an die Bedingung der Subsistenzmittellosigkeit geknüpft ist, so sind Personen, welche Reisemittel besitzen und diesen Umstand verschweigen, sofort aus der Naturalverpflegsstation wegzuweisen.
Eine Durchsuchung der Person oder der Effecten des Reisenden zu diesem Zwecke findet jedoch nur dann statt, wenn sich ein begründeter Verdacht des Besitzes von Reisegeld ergibt und der Betreffende diesen Besitz in Abrede stellt.
 
§ 9.
Erkrankt der Reisende während seines Aufenthaltes in der Naturalverpflegsstation, so ist derselbe in das nächstgelegene Krankenhaus abzugeben.
 
§ 10.
Der Leiter der Naturalverpflegsstation hat über die in der Naturalverpflegsstation Aufgenommenen ein Register zu führen, in welches nebst dem Nationale die Zuständigkeits- und sonstigen Daten der Reiseurkunde, Tag  und Stunde der Aufnahme, sowie der Entlassung aus der Naturalverpflegsstation, endlich die Art und das Quantum der geleisteten Arbeit daselbst einzutragen sind.
 
§ 11.
Jeder Naturalverpflegsstation muss für die Reisenden die klare Nachweisung geben, wo die nächsten Stationen sich befinden und wieviel Kilometer entfernt dieselben liegen.
 
§ 12.
In den Naturalverpflegsstationen soll den Reisenden die Möglichkeit geboten werden, sich zu vergewissern, ob nicht bei Landwirten, Gewerbetreibenden oder Privaten Arbeiter benöthigt werden, zu welchem Ende die Leiter der Naturalverpflegsstationen bezügliche Anmeldungen entgegenzunehmen, in Evidenz zu halten und über Nachfrage entsprechende Auskünfte zu ertheilen verpflichtet sind.
 
§ 13.
Die Arbeiten in den Naturalverpflegsstationen sind den Ortsverhältnissen anzupassen und haben, wie: Steineklopfen, Holzzerkleinern, Straßenräumung u.s.w. derart eingerichtet zu sein, dass sie auch von der betreffenden Arbeit Unkundigen geleistet werden können.
 
§ 14.
Es ist mit allem Nachdrucke dahin zu wirken, dass das übliche Verabreichen von Geschenken an Geld oder Lebensmittel durch die Einwohner gänzlich unterlassen werden, sich diese vielmehr der Aufgabe unterziehen, die Unterstützungssuchenden an die nächste Naturalverpflegsstation zu weisen.
 
§ 15.
Die unmittelbare Überwachung der Naturalverpflegsstation steht in erster Linie dem Bürgermeister jener Gemeinde, in welche sich die Station befindet, zu.
Führt der betreffende Bürgermeister selbst die Geschäfte des Leiters der Naturalverpflegsstation, so hat der Landesausschuss wegen unmittelbarer Überwachung der Naturalverpflegsstation Vorsorge zu treffen.


Die Arbeiterzeitung gibt uns Einblick in den Sinn dieser Anstalten, wobei die Kirchberger Station, wie auch andere, nicht gut wegkommt:
Diese Verpflegsstationen sollen den wandernden Handwerksburschen Obdach und Nahrung, eventuell auch Kleidung bieten, sowie die Möglichkeit, Arbeit zu finden. Sie sollten auch den „ehrlichen Handwerksburschen“ von dem „Vagabunden“ scheiden, und ersterem die Möglichkeit bieten, von einem Orte zum anderen zu gelangen, um Arbeit zu suchen, ohne zu dem demoralisierenden Mittel des „Bettelns auf der Landstraße“ greifen zu müssen.

Flüchtig die Motive zur Errichtung von Verpflegsstationen betrachtet, ist man versucht zu meinen, man habe es hier mit einer wirklich wohlthätigen Institution zu thun. Dem müden, hungernden Gehilfen, der in Folge einer gewerblichen Krise von jenem Orte vertrieben wurde, wo er sonst Arbeit und dadurch Brot fand, und nun wandern muß, um wieder irgendwo Arbeit zu finden, winkt ein gastlich Heim….

Einige derselben sind es nun, die wir zunächst ins Auge fassen wollen. Der reisende Handwerksbursche langt abends ermüdet von dem zurückgelegten Wege hungrig und durstig in der Station an. Er sehnt sich nach einem Plätzchen, die müden Glieder auszustrecken und wähnt, daß ihm dies ohne weiteres gestattet sei. Dem ist aber nicht so. Ehe ihm das Glück der Aufnahme zu theil wird, beginnt ein jedes Ehrgefühl ertödtendes Verhör. Der Leiter der Anstalt, beinahe in alle Fällen ein Polizist, sieht die Dokumente nach und begleitete dieses Amtsgeschäft mit einer Reihe von Kraftausdrücken, als: Faule Banda, nichtsnutziges Gesindel etc. Dies sind aber noch die zartesten Ausdrücke, deren er sich zu bedienen pflegt. Ist einer der Reisenden ein Ausländer, ergeht es ihm schlimmer, da wird vor jedem Schimpfworte noch die Bezeichnung der Nationalität des Bedauernswerten gesetzt und die Titel lauten dann so: Sie preußischer Vagabund, Sie italienischer Lump, etc.

In der Station Kirchberg am Wagram wurden zur Abwechslung den Handwerksburschen rohe kleistrige Knödel ohne irgend welches Schmalz oder Sauce vorgesetzt. Das Eßzeug, welches dazu benütz werden sollte, diese fragwürdige Mahlzeit dem Munde zuzuführen, war ebenfalls von herrlicher Beschaffenheit, eine Schichte Unschlitt und Rost bedeckten dasselbe und als einer der anwesenden Reisenden reines Eßzeug verlangte, wunderte man sich über seine übergroße Frechheit, welche sich so weit verstieg, als Handwerksbursche Reinlichkeit zu verlangen. Dann geht es ans Schlafen. Fast immer sind doppelt so viel Fremde angekommen als Betten, wenn man es so nennen will, vorhanden sind und so müssen zwei, ja nicht selten drei Mann auf einem Strohsack liegen. Ob dies der Sittlichkeit und Gesundheit dieser Menschen zuträglich ist, wird nicht gefragt. Des Morgens, nachdem sich die Reisenden in oft recht mangelhafter Weise gewaschen haben, denn Handtücher oder Waschbecken sind höchst selten vorhanden, bekommen sie wieder eine „köstliche Suppe“, welche ihnen durch ihren dumpfigen, widerlichen Geschmack den Appetit für den ganzen Tag verdirbt. Bevor die Dokumente zurückerstattet werden, bekommt der Fremde noch einige gute Lehren, welche ebenfalls von Kraftausdrücken strotzen und gar nicht wiederzugeben sind.

Und so geht es einen Tag, wie den andern. Suppe von fragwürdiger Beschaffenheit ist das Früh-, Mittag- und Abendbrot. Ja, wenn es nur immer so glatt ginge. Wie oft kommt der Fremde erst nach sechs Uhr abends auf die Station, wird gar nicht aufgenommen und muß wieder weiter wandern oder im Freien kampieren, denn kein Bauer hält ihn, so wie früher, über Nacht, weil doch „Verpflegsstationen“ bestehen.
(Arbeiter Zeitung vom 21.10.1892, veröffentlicht in ANNO) 

Wohl wenige Gesetze haben in so kurzer Zeit hinsichtlich der damit beabsichtigten Wirkung einen solchen Erfolg zu verzeichnen, wie das Landesgesetz bezüglich der Errichtung der Naturalverpflegsstationen in Niederösterreich.
Mit Beginn der Wirksamkeit dieser Stationen wurde nahezu sofort der Lebensnerv einer bedeutenden Gilde des öffentlichen Lebens, jener der sogenannten Landstreicher, abgeschnitten und wurden dieselben auf den Aussterbeetat gesetzt.
(Kremser Zeitung vom 25.7.1897, veröffentlicht in ANNO) 

Den Bettlern, denen durch diese Häuser ihr Verdienst und Nachlager bei Bauern entging, rächten sich manchmal böse:
Den 30. d. M. früh erscholl die Sturmglocke – es brannte in Dörfl. Die Feuerwehr war bald zur Stelle und so wurden blos die Stallungen und die Scheuer des Herrn Karl Obermeyer, Gärtner in Dörfl, vernichtet. Die Schuld der Brandlegung wird einem Bettler zugeschrieben, der abends vorher abgewiesen wurde, als er um ein Nachtlager bat, weil ohnehin in dem 10 Minuten entfernten Kirchberg eine Verpflegsstation sei. Auch bei Herrn Leopold Ritzinger wurde dieser Bettler abgewiesen und auch ihm wäre dasselbe Schicksal beschieden gewesen wie dem Herrn Obermeyer, aber er hörte nachts einen verdächtigen Lärm und verscheuchte den ungebetenen, gefährlichen Gast.
(Kremser Zeitung vom 31.8.1889, veröffentlicht in ANNO) 

Ein Erlass des N.Ö. Landessausschusses:
Trotz der wiederholten Ermahnungen und Belehrungen, Bettlern keine Almosen zu verabreichen, kommen von Zeit zu Zeit immer wieder Beschwerden vor, daß die Bevölkerung mit Betteln belästigt wird.
Es wird daher neuerdings nachdrücklichst daran erinnert, daß Betteln nach § 2 des Gesetzes vom 24. Mai 1885, Nr. 89 R.G.Bl. mit strengem Arrest von 8 Tagen bis zu 3 Monaten, eventuell mit Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt bestraft wird, daß arbeitssuchende Reisende in den Naturalverpflegsstationen Verpflegung und Unterkunft finden, daß für mittellose Reisende daher in ausreichendem Maße gesorgt und niemand aus Noth zu betteln gezwungen ist.
Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Auslagen der Naturalverpflegsstationen durch die Concurrenzbezirke getragen werden, zu denen daher jedermann beizutragen hat, und daß daher die an Bettler verabreichten Gaben eine doppelte Belastung für den Geber bedeuten.
Auch das noch immer übliche Verabreichen von Geschenken seitens der Genossenschaften und Gewerbetreibenden an um Arbeit vorsprechende Reisende ist als schädlich zu unterlassen, weil ein Widerspruch darin liegt, wenn die Gewerbetreibenden stets darüber Klage führen, daß sie keine Arbeitskräfte bekommen, die Arbeitslosen aber durch Geschenke unterstützen.
Die Gemeinden werden daher aufgefordert, die Ortspolizei kräftiger wie bisher zu handhaben, die durchziehenden Reisenden strenger zu überwachen, jeden Bettler aufzugreifen und dem k. k. Bezirksgerichte zu überstellen.
Ferner ergeht die Aufforderung an jedermann, sich der Verabreichung von Almosen oder Geschenken an Reisende zu enthalten, Bettler der k. k. Gendarmerie oder der Ortspolizei anzuzeigen und zu ihrer Unschädlichmachung mitzuwirken, sowie vorkommende Nachlässigkeiten der Ortspolizei hieher zur Anzeige zu bringen, damit gegen die Schuldtragenden eingeschritten werden kann.
Diese Kundmachung ist allen Bewohnern der Gemeinde zur Kenntnis zu bringen und in jedem Hause zu affigieren.
Wien, im Dezember 1899.
Der n.-ö. Landes-Ausschuß. 

Der 25 Jahre alte Taglöhner Franz Schwarz, vom Bezirksgericht Kirchberg am Wagram wegen Diebstahls verfolgt, wurde beim Betreten der hiesigen Verpflegsstation verhaftet und dem Gerichte eingeliefert.
(Kremser Zeitung vom 8.11.1902) 

Diese Naturalverpflegsstationen dürften laut den gefundenen Zeitungsartikeln bis in die 1930er-Jahre bestanden haben. 

Ein ausführlicher Artikel dazu befindet sich in der Statistischen Monatsschrift, Band 20 

September 2020, letzte Änderung Mai 2024
Maria Knapp