Landesgesetz vom 30. März 1886
(auszugsweise)
§ 1.
Zur Hintanhaltung des Haus- und Straßenbettels, sowie zur Verminderung des Landstreichens werden, vorläufig mit Ausnahme des Gemeindegebietes der k.k. Reichshauptstadt Wien, sowie der zum Wiener k.k. Polizeirayon gehörigen Gemeinden, in Niederösterreich Naturalverpflegsstationen errichtet.
§ 2.
Die Naturalverpflegsstationen haben in der Regel mit den bereits bestehenden oder noch weiters zu errichtenden Schubstationen zusammenzufallen.
§ 3.
…Die interne Organisation, die Überwachung des regelmäßigen Dienstbetriebes, sowie die Controlle der Rechnungen derselben, endlich die Prüfung und Genehmigung der den Concurrenzbezirksgemeinden von Naturalverpflegsstationen aufzurechnenden Auslagen steht dem Landesausschusse zu.
- Für das Mittag- und Abendmahl je 1 Liter nahrhaftes Gemüse und 25 Dekagramm Roggenbrod, und
- für das Frühstück ½ Liter nahrhaftes Gemüse und 25 Dekagramm Roggenbrot.
Die Arbeiterzeitung gibt uns Einblick in den Sinn dieser Anstalten, wobei die Kirchberger Station, wie auch andere, nicht gut wegkommt:
Diese Verpflegsstationen sollen den wandernden Handwerksburschen Obdach und Nahrung, eventuell auch Kleidung bieten, sowie die Möglichkeit, Arbeit zu finden. Sie sollten auch den „ehrlichen Handwerksburschen“ von dem „Vagabunden“ scheiden, und ersterem die Möglichkeit bieten, von einem Orte zum anderen zu gelangen, um Arbeit zu suchen, ohne zu dem demoralisierenden Mittel des „Bettelns auf der Landstraße“ greifen zu müssen.
Flüchtig die Motive zur Errichtung von Verpflegsstationen betrachtet, ist man versucht zu meinen, man habe es hier mit einer wirklich wohlthätigen Institution zu thun. Dem müden, hungernden Gehilfen, der in Folge einer gewerblichen Krise von jenem Orte vertrieben wurde, wo er sonst Arbeit und dadurch Brot fand, und nun wandern muß, um wieder irgendwo Arbeit zu finden, winkt ein gastlich Heim….
Einige derselben sind es nun, die wir zunächst ins Auge fassen wollen. Der reisende Handwerksbursche langt abends ermüdet von dem zurückgelegten Wege hungrig und durstig in der Station an. Er sehnt sich nach einem Plätzchen, die müden Glieder auszustrecken und wähnt, daß ihm dies ohne weiteres gestattet sei. Dem ist aber nicht so. Ehe ihm das Glück der Aufnahme zu theil wird, beginnt ein jedes Ehrgefühl ertödtendes Verhör. Der Leiter der Anstalt, beinahe in alle Fällen ein Polizist, sieht die Dokumente nach und begleitete dieses Amtsgeschäft mit einer Reihe von Kraftausdrücken, als: Faule Banda, nichtsnutziges Gesindel etc. Dies sind aber noch die zartesten Ausdrücke, deren er sich zu bedienen pflegt. Ist einer der Reisenden ein Ausländer, ergeht es ihm schlimmer, da wird vor jedem Schimpfworte noch die Bezeichnung der Nationalität des Bedauernswerten gesetzt und die Titel lauten dann so: Sie preußischer Vagabund, Sie italienischer Lump, etc.
In der Station Kirchberg am Wagram wurden zur Abwechslung den Handwerksburschen rohe kleistrige Knödel ohne irgend welches Schmalz oder Sauce vorgesetzt. Das Eßzeug, welches dazu benütz werden sollte, diese fragwürdige Mahlzeit dem Munde zuzuführen, war ebenfalls von herrlicher Beschaffenheit, eine Schichte Unschlitt und Rost bedeckten dasselbe und als einer der anwesenden Reisenden reines Eßzeug verlangte, wunderte man sich über seine übergroße Frechheit, welche sich so weit verstieg, als Handwerksbursche Reinlichkeit zu verlangen. Dann geht es ans Schlafen. Fast immer sind doppelt so viel Fremde angekommen als Betten, wenn man es so nennen will, vorhanden sind und so müssen zwei, ja nicht selten drei Mann auf einem Strohsack liegen. Ob dies der Sittlichkeit und Gesundheit dieser Menschen zuträglich ist, wird nicht gefragt. Des Morgens, nachdem sich die Reisenden in oft recht mangelhafter Weise gewaschen haben, denn Handtücher oder Waschbecken sind höchst selten vorhanden, bekommen sie wieder eine „köstliche Suppe“, welche ihnen durch ihren dumpfigen, widerlichen Geschmack den Appetit für den ganzen Tag verdirbt. Bevor die Dokumente zurückerstattet werden, bekommt der Fremde noch einige gute Lehren, welche ebenfalls von Kraftausdrücken strotzen und gar nicht wiederzugeben sind.
Und so geht es einen Tag, wie den andern. Suppe von fragwürdiger Beschaffenheit ist das Früh-, Mittag- und Abendbrot. Ja, wenn es nur immer so glatt ginge. Wie oft kommt der Fremde erst nach sechs Uhr abends auf die Station, wird gar nicht aufgenommen und muß wieder weiter wandern oder im Freien kampieren, denn kein Bauer hält ihn, so wie früher, über Nacht, weil doch „Verpflegsstationen“ bestehen.
(Arbeiter Zeitung vom 21.10.1892, veröffentlicht in ANNO)
Wohl wenige Gesetze haben in so kurzer Zeit hinsichtlich der damit beabsichtigten Wirkung einen solchen Erfolg zu verzeichnen, wie das Landesgesetz bezüglich der Errichtung der Naturalverpflegsstationen in Niederösterreich.
Mit Beginn der Wirksamkeit dieser Stationen wurde nahezu sofort der Lebensnerv einer bedeutenden Gilde des öffentlichen Lebens, jener der sogenannten Landstreicher, abgeschnitten und wurden dieselben auf den Aussterbeetat gesetzt.
(Kremser Zeitung vom 25.7.1897, veröffentlicht in ANNO)
Den Bettlern, denen durch diese Häuser ihr Verdienst und Nachlager bei Bauern entging, rächten sich manchmal böse:
Den 30. d. M. früh erscholl die Sturmglocke – es brannte in Dörfl. Die Feuerwehr war bald zur Stelle und so wurden blos die Stallungen und die Scheuer des Herrn Karl Obermeyer, Gärtner in Dörfl, vernichtet. Die Schuld der Brandlegung wird einem Bettler zugeschrieben, der abends vorher abgewiesen wurde, als er um ein Nachtlager bat, weil ohnehin in dem 10 Minuten entfernten Kirchberg eine Verpflegsstation sei. Auch bei Herrn Leopold Ritzinger wurde dieser Bettler abgewiesen und auch ihm wäre dasselbe Schicksal beschieden gewesen wie dem Herrn Obermeyer, aber er hörte nachts einen verdächtigen Lärm und verscheuchte den ungebetenen, gefährlichen Gast.
(Kremser Zeitung vom 31.8.1889, veröffentlicht in ANNO)
Ein Erlass des N.Ö. Landessausschusses:
Trotz der wiederholten Ermahnungen und Belehrungen, Bettlern keine Almosen zu verabreichen, kommen von Zeit zu Zeit immer wieder Beschwerden vor, daß die Bevölkerung mit Betteln belästigt wird.
Es wird daher neuerdings nachdrücklichst daran erinnert, daß Betteln nach § 2 des Gesetzes vom 24. Mai 1885, Nr. 89 R.G.Bl. mit strengem Arrest von 8 Tagen bis zu 3 Monaten, eventuell mit Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt bestraft wird, daß arbeitssuchende Reisende in den Naturalverpflegsstationen Verpflegung und Unterkunft finden, daß für mittellose Reisende daher in ausreichendem Maße gesorgt und niemand aus Noth zu betteln gezwungen ist.
Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Auslagen der Naturalverpflegsstationen durch die Concurrenzbezirke getragen werden, zu denen daher jedermann beizutragen hat, und daß daher die an Bettler verabreichten Gaben eine doppelte Belastung für den Geber bedeuten.
Auch das noch immer übliche Verabreichen von Geschenken seitens der Genossenschaften und Gewerbetreibenden an um Arbeit vorsprechende Reisende ist als schädlich zu unterlassen, weil ein Widerspruch darin liegt, wenn die Gewerbetreibenden stets darüber Klage führen, daß sie keine Arbeitskräfte bekommen, die Arbeitslosen aber durch Geschenke unterstützen.
Die Gemeinden werden daher aufgefordert, die Ortspolizei kräftiger wie bisher zu handhaben, die durchziehenden Reisenden strenger zu überwachen, jeden Bettler aufzugreifen und dem k. k. Bezirksgerichte zu überstellen.
Ferner ergeht die Aufforderung an jedermann, sich der Verabreichung von Almosen oder Geschenken an Reisende zu enthalten, Bettler der k. k. Gendarmerie oder der Ortspolizei anzuzeigen und zu ihrer Unschädlichmachung mitzuwirken, sowie vorkommende Nachlässigkeiten der Ortspolizei hieher zur Anzeige zu bringen, damit gegen die Schuldtragenden eingeschritten werden kann.
Diese Kundmachung ist allen Bewohnern der Gemeinde zur Kenntnis zu bringen und in jedem Hause zu affigieren.
Wien, im Dezember 1899.
Der n.-ö. Landes-Ausschuß.
Der 25 Jahre alte Taglöhner Franz Schwarz, vom Bezirksgericht Kirchberg am Wagram wegen Diebstahls verfolgt, wurde beim Betreten der hiesigen Verpflegsstation verhaftet und dem Gerichte eingeliefert.
(Kremser Zeitung vom 8.11.1902)
Diese Naturalverpflegsstationen dürften laut den gefundenen Zeitungsartikeln bis in die 1930er-Jahre bestanden haben.
Ein ausführlicher Artikel dazu befindet sich in der Statistischen Monatsschrift, Band 20
September 2020, letzte Änderung Mai 2024
Maria Knapp